Ich begreife es nicht, verzweifelt mal wieder am Massengeschmack, warum zum Teufel geht das Lied „Du bist alles…“ von der großartigen Ex-Polarkreis 18-Mannschaft („Allein, allein“) mit dem bezaubernd singenden Charakterdarsteller (Schauspieler) und Musiker Christian Friedel als Frontmann der Art Rock-Band nicht durch die Decke und toppt die Musikcharts aller deutschsprachigen Länder? Ist der Background aus der Serie Babylon Berlin zu schwul, respektive viel zu queer, dass sich die Massen der Mehrheitsgesellschaft nicht mit Begeisterung hinter diesem tief emotionalen, minimal aber episch komponierten Meisterwerk des deutsch-romantischen Liedguts stellen möchten – zu wenig Identifikationspotential für den heteronormierten Schlagerop- oder Deutschrap-Mainstream? Ich versuche, darüber nachzudenken, ob die Mainstreamdeutschen als Solches zu sexistisch drauf oder schlicht zu homophob sind, sich dem Lied mit wohliger Wonne breitbeinig auf dem Sofa sitzend hinzugeben. Aber jetzt noch einmal; einfach nur zuhören und die krasse Stimme von Friedel an die Seele ranlassen. Friedel sei mit euch.
„Du bist alles…“ von Woods of Birnam – offizielles Video zur „Radioversion“
Obwohl bekannt aus Funk und Fernsehen sozusagen, hat das am 21. Oktober auf YouTube hochgeladene „offizielle“ Video zum melancholisch-romantisch berührenden Song „Du bist alles…“ (Woods of Birnam) bis Halloween gerade mal 76.000 Klicks erzielt. Das bereits vor Monaten zur Ausstrahlung auf Sky veröffentlichte Video zum Originallied mit Akkordeon-Begleitung aus dem Soundtrack von Babylon Berlin erreicht ebenfalls keine Spitzenwerte: Am 23. Januar hochgeladen dümpelt die „Filmversion“ von „Du bist alles“ bei knapp über 170.000 Zuschauerzugriffe, auch die musikalische Vollversion, aber noch ohne Spielszenen zum Song, erreicht nicht einmal 60.000 Aufrufe. Insgesamt sind das unter 300.000 gezählte Zugriffe. Das ist nicht viel für so ein rein subjektiv betrachtet wirklich wunderbares Lied und halt objektiv weitaus zu wenig für einen Einstieg in die Media Control Charts, wo längst auch Zugriffe auf Streamingdiensten Punkte beim (ausgedienten) „Plattenverkaufs“-Ranking bringt. Für ganze fünf Tage schaffte es der Song in der Morgenstern-Filmedition direkt im Anschluss an die Free-TV-Premiere der neunten Babylon Berlin-Folge immerhin in die deutschen Download-Charts von iTunes mit einer Höchstplatzierung auf dem 38. Rang. Ein kleiner, kurzer Achtungserfolg.
Mitschrift des Liedtextes vom Zuhören: Du bist alles… von Woods of Birnam
Ich war allein in meinen Träumen, in meinem Kopf hab ich geküsst. Eintausendmal. Heut sah ich dich vor meine Türe stehen, frag mich, sucht etwa Du nach mir? Ich kann’s in deinen Augen sehn, nur ich kann diesen Blick versteh’n.
Du bist alles, was ich will, du bist alles, was ich will. Komm und trag mich durch die Welt, komm und nimm mein ganzes Leben. Du bist alles, was ich will, du bist alles.
Uns bleibt nicht lange, unsere Zeit verrinnt, siehst du nicht wie die Welt zerbricht. Eintausendmal. Mein Herz, es füllt sich und zerfließt. Weißt du denn nicht, was du mir bist? Ich hab dich viel zu lang ersehnt, ich hab dir das nur nie erwähnt.
Du bist alles, was ich will, du bist alles. Dieser Stern verglüht im Nu, unser Glück hängt jetzt am Morgen.
Du bist alles, was ich will, du bist alles. Komm und trag mich durch die Welt, komm und nimm mein ganzes Leben. Du bist alles, was ich will, du bist alles…
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Warum, warum, warum… – wieso ist das schöne Lied kein Megahit?
Zurück also zur Frage, warum der Song, bekannt geworden durch eine sehr liebevoll verschwult inszenierten Szene aus Babylon Berlin, nicht die Verkaufs- bzw. Streaming-Charts anführt oder zumindest dort vertreten ist? Mutmaßlich ist die Zielgruppe entweder zu klein, oder nicht ausdifferenziert genug. Fraglich aber, ob die Band und Serienmacher eine im Popzirkus gut anzupeilende Zielgruppe überhaupt anvisierten. Denn die Szene im Film fügt sich einfach bloß künstlerisch sehr gut umgesetzt ins Setting und der düster-mystischen, politisch brisanten und hochdramatischen Serienerzählung der dritten Staffel der international verlegten Fernsehserie ein. Auch das emotionale und eher traurige Lied selbst ist gar nicht erst als knallige Bombast-Ballade angelegt, sondern einfühlsam zum Thema passend hochanspruchsvoll künstlerisch inspiriert komponiert worden. Mit textlichen Anleihen aus altehrwürdigem deutschsprachigen Schlager- und Kabarett-Liedgut, die den Übergang aus dem Historismus der Jahrhundertwende in die Moderne zur damaligen Zeit tatsächlich massentauglich musikalisch markierten, mag ein viel streamendes Publikum 2020 womöglich auch komplett überfordert sein. Heute wirken „ersehnt“ und „dir nie erwähnt“-Wortreime wohl – komplett zu Unrecht – irgendwie altmodisch für Deutschrap von Capital Bra und Schlagerop von Maite Kelly hörende Fangruppierungen daheim vor den Smartphone- oder Großbildschirmen. Naheliegend im ersten Corona-Pandemie-Herbst, dass die Menschen im zu vollen Wohnzimmer keinen Kopf frei für und keinen Bock auf eher traurig anmutenden, vor Sehnsucht verzehrenden Wohlklang haben.
Wirr ist das Volk, welches dieses wunderbare Liebeslied nicht zu lieben vermögen.
Und die im Lockdown von Kneipen- und Theaterbesuchen, Tanzpartys und Saunabesuchen weitgehend ausgesperrten, sonst stets der Romantik aufgeschlossenen, queren und gayfriendly Zielgruppe der allein zu Hause darbenden Singles…, öhm? Also ich hör mir das halt dann besonders gerne an, gerade in den beginnenden grauen Novembertagen sind romanische, auch melancholische, ja fast stimmungsdrückende Lieder, die das Herz berühren, doch etwas wunderbar Erbauendes. Und nein, das Lied ist nicht kitschig. Ganz im Gegenteil – wohl auch nicht wahr, aber sicherlich ist es emotional kultiviert und hat Klasse.
Was aber meint das Volk da draußen? Bei YouTube sind die, die dort das Lied eben goutieren offenbar vollends angetan, die Kommentare überschlagen sich in Lob. „Berührend“ ist ein häufiges Stichwort. Beim Schweizer Musik- und Chartsdatenbank-Portal Hitparade.ch äußern sich zwei Nutzende zum Song unterschiedlich. Ich zitiere einen eher wenig begeisterten Popmusik- Interessierten, der den Song weder zu queer, noch für zu schwul hält, aber halt schon für viel zu anspruchsvoll für die Charts.
„Joar, ich habe da schon irgendwo Verständnis für, wenn einen dieser Song berührt. Ich persönlich empfinde ihn aber als relativ anstrengendes Liebeslied, das gewöhnungsbedürftig gesungen ist und musikalisch einfach nicht aus den Puschen kommen mag. Meins ist das nicht.“
Nutzer-Kommentar bei Hitparade.ch
Also, wenn das hier einer liest, hört euch alle Versionen vielfach an, teilt den kulturell hochwertigen Kram überall im Internet, wo es nur geht auf allen Kanälen, rettet die Welt indem ihr sie ein bisschen schöner macht mit „Du bist alles…“ von Woods of Birnam. Danke. Friedel sei mit euch.